Das Menschenbild des keltischen Christentums

„… dass er dein Bild in uns erneuere“

Der spirituelle Weg des Einzelnen

Der Weg der inneren Bekehrung

Der Text stammt aus dem Internet-Beitrag von Hans-Joachim Tambour „Der keltische Weg“

Neben der Betonung der geradezu greifbaren Präsenz Gottes in der Schöpfung weiß die irische Spiritualität allerdings auch um die Erfahrung von Gottferne und die Realität von Brüchen und Grenzen. Irische Spiritualität verharmlost die Herausforderungen des Lebens nicht und wird falsch interpretiert, wenn man sie, wie manche esoterische Lesarten, auf eine Art ganzheitliche Wohlfühlspiritualität reduziert. (…)

Das Wissen um die Gefährdung des Lebens durch äußere Einflüsse oder innere Versuchungen und die Angewiesenheit auf göttliche Zuwendung verdichtet sich in der intensiven Bußpraxis der irischen Kirche. Symbolisch stehen dafür die Bußbücher, die ab dem 6. Jahrhundert entstanden und die zur ältesten irischen Literatur gehören. Aus heutiger Sicht sind diese Bußbücher schwer verständlich, bestehen sie doch im wesentlichen aus Katalogen, in denen bestimmten Vergehen bestimmte Bußübungen zugeordnet werden. Heute werden diese Bußbücher meist sehr ablehnend rezipiert, scheint sich in den dort aufgeführten Bußtarifen doch ein sehr individualistisches und verdinglichtes Verständnis von Versöhnung widerzuspiegeln. Thomas O‘Loughin weist dagegen einen Weg, wie man das in den Bußbüchern enthaltenen genuine Verständnis von Versöhnung würdigen kann. Zunächst fordert er, dass man die irischen Mönche nicht für Missbräuche verantwortlich machen solle, die später aus diesen Ansätzen entstanden sind. Um den Büchern gerecht zu werden, sei es deshalb notwendig, ihren Sitz im Leben zu rekonstruieren. Dann stelle sich heraus, dass man diese Bücher, die nur die negativen Seiten des Menschen ansprechen, nicht als systematische Werke christlicher Anthropologie lesen dürfe. Sie seien vielmehr Hilfsmittel für die konkrete Seelsorgearbeit gewesen, die Seelsorgern in der Situation, in der Menschen ihre Fehlhaltungen ins Wort brachten, eine Orientierung an die Hand geben wollten. Um das Neue und Besondere dieser Bücher zu verstehen, ist es nach O‘Loughin nötig, das Bußverständnis, das diese Kataloge voraussetzen, mit dem bis dahin geltenden Bußverständnis zu vergleichen. In der Bußpraxis der alten Kirche konnte nach der Taufe nur noch in außergewöhnlichen Fällen ein zweites Mal eine kirchliche Sündenvergebung empfangen werden. Die in der Öffentlichkeit vollzogene Sündenvergebung wurde verknüpft mit einem Bußwerk, das als Bestrafung für ein begangenes Vergehen verstanden wurde. In Abgrenzung dazu verglichen die irischen Mönche die Sünde weniger mit einem Verbrechen, das öffentlich geahndet werden müsse, als vielmehr mit einer Krankheit, die die Natur des Menschen schwäche und so durch ein Antidot, das Bußwerk, bekämpft werden müsse. Aus diesem Bußverständnis entwickelten sie eine neue Praxis, die stärker die individuellen Wege der Gläubigen berücksichtigte. Die Vergebung wurde in einem privaten Rahmen (Ohrenbeichte) erteilt und das aufgegebene Bußwerk wurde nun nicht mehr als Strafe, sondern vielmehr als Medizin verstanden. Neu war auch die Vorstellung, dass die Beichte nicht nur einmal, sondern kontinuierlich empfangen werden konnte. Darin verbirgt sich nach O‘Loughin die Vorstellung, dass Umkehr eine lebenslange Herausforderung ist und sich nach irischen Verständnis nicht – wie in der alten Kirche – auf den Moment der Taufe reduzieren lässt. Eng verbunden mit der Bußpraxis der Iren ist die Institution des Anam Cara, eines Seelenführers. Seine Aufgabe war es, so O‘Loughin, als geistlicher Begleiter durch die Therapie der Bußwerke dem Begleiteten in seinem christlichen Lebenswandel zu unterstützen. Welche Wertschätzung dieser Seelenfreund genoss macht eine Episode aus der Vita der heiligen Brigid deutlich. Als der Anam Cara eines jungen Mönchs gestorben war, riet die Heilige dem Mann, solange nichts zu essen, bis er einen neuen Seelenfreund gefunden habe, denn ein Mann ohne Seelenfreund sei wie ein Leib ohne Kopf.

Einfluss des Ägyptischen Mönchtums

Viele Bußbücher orientieren sich an der Achtlasterlehre, einer Typologie der Gefährdungen der menschlichen Seele, die auf Evagrius Ponticus zurückgeht. Evagrius Ponticus ́Anliegen war es, die Erfahrungen der ägyptischen Wüstenväter, die nur in unzusammenhängenden Geschichten und Sprüchen überliefert waren (Apophthegmata Patrum), zu systematisieren. Anhand der irischen Bußbücher wird die enge Verbindung der frühen irischen Kirche mit dem ägyptischen Mönchtum greifbar. Die irischen Mönche hatten wohl keine direkten Verbindungen mit den Einsiedlern der sketischen oder nitrischen Wüste. Doch unzweifelhaft war Johannes Cassianus, der in seinen Büchern der Westkirche die Spiritualität der Wüstenvater vermittelte, die wichtigste Quelle des irischen Mönchtums. Das berechtigt, Auffassungen Cassians auf die Ideale des irischen Mönchtums zu übertragen. Nach Gertrude und Thomas Sartory organisieren sich alle Überlegungen Cassians um eine Mitte, die sich mit einem Wort der Seligpreisung zusammenfassen lässt: „Selig die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“ (Mt. 5, 8).  Im christlichen Leben geht es diesem Wort folgend darum, eine Reinheit, man könnte auch sagen: Absichtslosigkeit des Herzens zu gewinnen, um Gott zu begegnen, und zwar nicht erst nach dem Tode, sondern bereits in dieser Welt, im Inneren der Seele. Nach Sartory verstand Cassian das Jesu Wort vom Gottes Reich, das mitten unter uns ist, mystisch, wenn er davon sprach, dass das Reich Gottes inmitten von uns, d.h. im Herzen des Menschen ist. „Dieses inwendige Reich Gottes“ sei der Schlüssel zur Spiritualität Cassians.

Das heilsgeschichtliche Drama, das die Bibel im AT und NT bezeuge, spiele sich noch einmal in der Seele des Menschen ab. Die gegen das Gottesvolk Israel kämpfenden Völker Ägypten, Kanaan oder Babylon, personifizierten den geistlichen Kampf, den der Einzelne in seinem Leben zu bestehen habe. Um in diesem geistlichen Kampf die Geister zu scheiden, suchten die Mönche das Gespräch mit anderen Mönchen, sowohl in Ägypten bei einem Abbas, als auch in Irland beim Anam Cara.

Doch beschränkte sich diese Praxis der Seelenführung in Irland nicht nur auf Mönche und Schwestern, sondern bezog auch Menschen in weltlichen Berufen und weltlichen Lebensstand mit ein. Irland vollzog eine ganze eigene Entwicklung hin zu einer monastisch zentrierten Gesellschaft. Unter den irischen Klöstern darf man sich keine Gemeinschaft vorstellen, die sich wie die ägyptischen Mönche von der Welt getrennt hätten. Um die Klöster herum siedelten Bauern und Handwerker, die verheiratet waren und in Familien lebten und doch zu den Klöstern dazugerechnet wurden. „Insgesamt stellten also die irischen Klöster eine intensive Arbeits- und Lebensgemeinschaft von Mönchen, Klerikern und Laien dar.“ (F. Prinz)

Die Bußbücher und die damit verbundene Seelenführung richteten sich so an die breite Öffentlichkeit aller Christen. Iroschottische Wandermönche brachten diese Praxis mit auf den europäischen Kontinent und lösten damit einen tiefen Wandel des abendländischen Bußverständnisses aus. Die private mehrmals wiederholbare Beichte gehört zu dem bedeutsamsten Vermächtnis der irischen Kirche für die Gesamtkirche.

Anthropologie

Natur und Gnade

Nach irischem Verständnis war die Beichte Teil eines spirituellen Wegs, zu dem auch geistliche Übungen (Askese) gehörten. In einzelnen Hagiographien stoßen uns heute fremde und unverständliche Formen von Askese auf, wie z.B. der Brauch, in der Fastenzeit stundenlang mit ausgebreiteten Händen im kalten Wasser zu stehen. Fruchtbarer als eine Auseinandersetzung mit einzelnen Bußübungen ist aber ist die Beschäftigung mit der darin enthaltenen Anthropologie. Zwar zeigen die Bußbücher, dass der Mensch immer wieder auf seinem Weg scheitert und auf die Gnade Gottes angewiesen ist. Sie gehen aber auch davon aus, dass der Mensch an seinem Erlösungsprozess aktiv mitwirken kann. Theologisch werten die Bußbücher die menschliche Natur auf. Die Frage, in welchem Verhältnis die menschliche Natur und die göttliche Gnade stehen, wurde im Abendland vor allem im Disput zwischen Augustinus und dem Wandermönch Pelagius ausgetragen. Hieronymus meint, dass Pelagius aus Irland kam. Das ist ein Hinweis, der, ob er historisch zutrifft oder nicht, auf jeden Fall die enge geistige Verbindung zeigt, die zwischen Pelagius und dem irischen Mönchtum existiert. Die ersten sicheren Nachrichten berichten von Pelagius, dass er in Rom ein Kloster gründete, als Seelenführer und Schriftsteller auftrat und als Person hohes Ansehen selbst bei seinen Gegnern genoss. Seine Lehre aber wurde in einem über Jahrzehnte andauernden Prozess – vor allem auf Betreiben des Augustinus und der nordafrikanischen Kirche – von der Großkirche abgelehnt. Ob diese Verurteilung Pelagius zu Recht traf, wird heute neu diskutiert. Eine exakte Beurteilung wird dadurch erschwert, dass fast alle Schriften des Pelagius vernichtet wurden und sich seine Lehre nur durch die Zitate seiner Gegner rekonstruieren lässt. Nach Gisbert Greshake hat Pelagius nichts revolutionär Neues gesagt, sondern die Tradition der griechischen Kirchenväter fortgesetzt. Zentral war für die Kirchenväter die Idee einer göttlichen Erziehung der Menschen durch die Weltgeschichte hindurch (Paidea) und die Vorstellung, dass der Mensch durch Nachahmung in die Gemeinschaft mit Christus hineinwachse. Die Anschauung gliche derart der des Pelagius, dass man schon die griechischen Väter als Pelagianer vor Pelagius bezeichnen müsse. In der Tat hatte die Ostkirche auf zwei Synoden in Jerusalem an der Theologie des Pelagius nichts auszusetzen.

In Rom verfasste Pelagius zwischen 405/6-409 einen Pauluskommentar, in dem er gegen den manichäischen Dualismus seiner Zeit die theologische Auffassung vertrat, dass die menschliche Natur durch den Sündenfall nicht vollends verderbt sei. Die Möglichkeit zum Guten stecke im Menschen, da die menschliche Natur von Gott mit einem freien Willensvermögen ausgestattet sei. Durch den Sündenfall sei die Natur nicht ontologisch verändert, sondern nur eine neue soziale und moralische Situation geschaffen worden. Neben Gottes Stimme gebe es nach dem Sündenfall auch ein negatives Vorbild, das die menschliche Freiheit zur Sünde verleite und den Menschen in schlechten Gewohnheiten gefangen hielte. Grundsätzlich aber könne der Mensch gegen diese Schwerkraft des Bösen ankämpfen, indem er bestimmte Lebenshaltungen (Tugenden) einübe.

Pelagius stieß auf den Widerstand des Augustinus, der in dieser Auseinandersetzung seine Erbsündenlehre entwickelte. Faktisch hat die christliche Anthropologie der Westkirche durch den Einfluss des Augustinus eine Schlagseite bekommen, in der Gnade und Prädestination einseitig herausgestellt werden, die menschliche Natur dagegen abgewertet wurde.

Pelagius war – ähnlich wie die irische Bußpraxis impliziert – im Unterschied zu dieser Auffassung davon überzeugt, dass die menschliche Natur durch den Sündenfall ihre Freiheit und Würde nicht eingebüßt habe.

Pilgerschaft

Die irische Bußpraxis verstand das Leben als eine Form sich immer wieder neu vollziehender Umkehr. Wie ein Pilger, der sein Ziel noch nicht erreicht hat, sollte der Mensch innerlich unterwegs bleiben. Die irische Spiritualität war davon überzeugt, dass der Glaubende bereit sein müsse, ein Leben lang innerlich weiter zu wachsen. Um diese zunächst rein spirituelle Einsicht auch real erfahrbar werden zu lassen, entwickelten die irischen Mönche die asketische Übung, die Heimat, die Sicherheit und Vertrautheit bietet, zu verlassen und als Pilger in unbekannte Welten aufzubrechen. Sie nannten dies auch das „weiße Martyrium“. Anders als die Pilgerschaften des Mittelalters, die einen bestimmten Wallfahrtort ansteuerten, vertrauten sich die Wandermönche der Führung Gottes an, ihm ganz überlassend, wohin er sie führen würde. Besonders anschaulich wird das in der bereits erwähnten Geschichte des Heiligen Brendon, der sich bei seiner Seefahrt dem Willen Gottes überließ, ohne zu planen, wohin ihn diese Reise führen würde. Das Konzept der peregrinatio propter Christo, der Pilgerschaft um Christi willen, führte irische Wandermönche wie Columban, Gallus, Killian oder Virgil von Irland auf das europäische Festland, um dort Klöster zu gründen. Die Ausstrahlungskraft dieser Klöster wirkte wiederum missionarisch. Aber die irischen Mönche betrieben keine systematisch Mission. Darin unterscheiden sie sich wesentlich z.B. von dem durch päpstliches Mandat legitimierten angelsächsischen Missionar Winfried Bonifatius. Gewissermaßen im Handgepäck brachten die irischen Wandermönche Kenntnisse der Antike mit, die auf dem Kontinent verloren gegangen waren. So erneuerten sie Europa geistig und spirituell.

Heute stehen das Christentum in den westlichen Gesellschaften wieder vor der Herausforderung, die christliche Tradition zu verlebendigen. Herkömmliche Formen christlichen Lebens scheinen für viele nicht mehr tragfähig zu sein. In einem solchen Augenblick ist es gut, nach neuen Inspirationen Ausschau zu halten bzw. sich der Schätze der eigenen Tradition zu vergewissern. Der historische Graben, der uns von der irischen Kirche trennt, ist kaum zu überbrücken. Und doch zeigen christliche Gruppen und spirituelle Aufbrüche in Irland, Schottland oder England, wie z.B. die Iona Community, Brigidine Sisters oder die Northumbria Community, welche Kraft aus der keltischen Spiritualität zu schöpfen ist.

Über Dr. Erhard Griese

Jahrgang 1936, verheiratet, drei erwachsene Töchter, vier Enkelkinder. Dr. theol. und Pfarrer i. R. der Evangelischen Kirche im Rheinland. Ich möchte hier Beiträge zu den Themen "Theologie" und "Pilgerreisen" anbringen.
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